von Jürgen Wiegert
An der Westseite des Geländes der Bönninghardter St.-Vinzenzkirche grenzt das Gelände des Stautenhofes an. An das hinter Strauchwerk und Büschen verborgene und sehr gepflegt Hofgrundstück grenzen gut bewirtschaftete Acker- und Waldflächen an. Der Stautenhof ist eines der ältesten, heute noch annähernd im ursprünglichen Umfang erhaltenes erhaltenen Anwesen auf der Bönninghardt. Niemand, der es sieht, kann sich vorstellen, unter welch ärmlichen Umständen diese Kolonie entstand und bewirtschaftet wurde.
Bis vor fast 240 Jahren war die Hochebene der Bönninghardt eine einsame Heidelandschaft. Bedingt durch ihren unfruchtbaren und trockenen Sandboden gab es nur hie und da eine Ansiedlung. Die Region wurde wegen ihrer Unfruchtbarkeit und fehlender Wasserstellen gemieden. Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ab 1769 entstand auf der Bönninhardt eine erste Kolonie. Einige Jahre später, es war 1772, wurde die Bönninghardt durch Pfälzer Auswanderer besiedelt. Sie kamen von der Gocher Heide, dem heutigen Pfalzdorf, weil dort kein Platz mehr für sie war. So entstand auf der Bönninghardt eine Nachfolgerkolonisation zu den Ansiedlungen der Gocher Heide. Die Kolonisten schlossen einen Erbpachtvertrag ab, der ihnen die ersten 15 Jahre Abgabenfreiheit garantierte. Sie mussten sich aber verpflichten, das zugewiesene Land urbar zu machen, zu kultivieren und auf eigene Kosten ein Haus zu bauen.
Zu diesen Bedingungen kam 1781 der Kolonist Friedrich Staut von der Gocher Heide auf die Bönninghardt. Der zu dieser Zeit 41-jährige Mann kam nach hier, „… um etwas eigenes zu haben …“,wie er damals angab. Auf dem Diedfeld bei der Helterdick errichtete er seine Kolonie.
Das Diedfeld ist das Gelände westlich der heutigen St.-Vinzenz-Kirche zwischen der Landsstraße und dem Haagschen Berg.
Die Größe der von Staut in Erbpacht genommenen Fläche ist nicht bekannt. In einer Aufzeichnung des kurkölnischen Amtsverwalters Scheffer von 1794 heißt es lediglich, dass Staut „…einen beträchlichen Strich des sogenannten Diedfeldes …“ in Erbpacht genommen habe. Wie das Haus und vielleicht ein Stall ausgesehen haben mögen, ist nicht bekannt. Staut begrenzte seine Kolonie, wie die anderen Siedler, durch Anlegen von Gräben. Mit dem Aushub legte er parallel zu den Gräben Wälle an, die er mit Hölzern – überwiegend Birken und Erlen – bepflanzte. Er brauchte schließlichauch Brennholz. Ein solcher zum Stautenhof gehörender Wall ist heute noch westlich der St.-Vinzenz-Kirche, hinter der Plaggenhütte, zu sehen. Die Siedler erkannten jedoch bald, dass die Hölzer viel zu langsam als notwendig wuchsen. Sie holten sich alle verbotenerweise aus dem Helterdicks Busch (heute: der Haagsche Berg) das notwendige Brennholz. Ob Staut sich an diesem Holzraub beteiligte, ist nicht bekannt.
Für einen zusätzlichen Broterwerb legte Staut auf seinem Besitz Tannenpflanzungen an. Er hatte erkannt, dass diese am besten auf der Bönninghardt wuchsen. Die Eigenschaft eines Heidebodens war ihm von der Gocher Heide her bekannt. Friedrich Staut erkannte sehr schnell, dass es ohne Wasser nicht geht. Man musste sich das Wasser mit einer Schubkarre von zum Teil weit entfernten Wasser führenden Senken holen. Ein Problem hatten alle Siedler, wenn bei längerer Trockenheit auch in den Kuhlen kein Wasser zu finden war. Da half nur der weiter Weg in die umliegenden Niederungen. Staut baute sich als nächstes mit Ziegelsteinen und eigener Kraft einen 60 Fuß (= ca. 20m) tiefen Brunnen mit einem Durchmesser von ca. einem Meter. Das Material musste er selbst mit Pferd und Karren herbeischaffen und kostete ihn ca. 150 Reichstaler. Das war für die damaligen Verhältnisse viel Geld. Ob ihm jemand geholfen hat und als Gegenleistung den Brunnen mit benutzen durfte, ist nicht bekannt. Der Brunnen versorgt heute noch den Stautenhof mit Wasser.
Der unfruchtbare Boden gab nicht viel her. Es fehlte einfach an Dünger. Kunstdünger gab es seinerzeit noch nicht und natürlichen Mist bekam man nur, wenn man Vieh hielt. Doch Vieh braucht Futter und Wasser und an beidem fehlte es. Der wenige Mist reichte nicht aus um erträgliche Ernten zu haben. Es war ein Teufelskreis. Die Wasserversorgung hatte Staut sich aber gesichert. Die gegenüber dem niederrheinischen Flachland hohe Ebene der Bönninghardt war (und ist auch noch heute) allen Winden ausgesetzt, so dass das raue Klima auch keinen guten Ertrag zuließ. Die übrigen Siedler lebten überwiegend unter dem Existenzminimum. Die Folge war, dass sie in den umliegenden Dörfern um Nahrung bettelten. Ob Friedrich Staut sich an irgendwelchen Bettelaktionen beteiligt hat, ist nicht bekannt.
Die 15 Jahre Pachtfreiheit waren in absehbarer Zeit vorbei. Es war höheren Ortes bekannt, dass die Kolonisten die vereinbarte Pacht (ein Zehntel des Ertrages) nicht würden zahlen können. Der kurkölnische Amtsverwalter Scheffer schlug in einem Schreiben vom 14. April 1794 an den Kurfürsten vor, alle ohne Genehmigung errichteten Kolonien wieder abzureißen und nur noch Einheimische aus den angrenzenden Dörfern eine Genehmigung zu erteilen. Zu diesem Zeitpunkt bewirtschaftete Friedrich Stauts Sohn Laurentz die Kolonie. Laurentz Staut war 37 Jahre alt, katholisch und mit Agnes Weibels oder Walbers verheiratet und hatte vier Kinder.
Im Sommer 1794 begannen die Franzosen mit der Besetzung des Rheinlandes. Zunächst im Süden, kamen sie im Oktober an den Niederrhein. Am 21. Oktober 1794 erreichte eine Vorhut Alpen und am 10. November wurde Alpen endgültig von den Franzosen besetzt. Im darauf folgenden Winter besetzten die Franzosen die Bönninghardt. Es folgten drei Jahre Besatzungszeit mit wirtschaftlicher Ausbeutung zum Nutzen der französischen Republik. Damit war schnell jede Begeisterung und Sympathie für die revoltionären Ziele Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verflogen.
Im November 1797 änderte sich das. Die Franzosen begannen nun mit dem Code Civil Schritt für Schritt die französische Verwaltungs- und Rechtsordnung einzuführen. Verwaltungseinheiten (Mairies, Cantone) wurden gebildet. Die Bönninghardt wurde dem Canton Xanten, Arrondissement Kleve zugeordnet. Eine Zuordnung zu einer oder mehreren Mairies erfolgte vorerst nicht. Es folgten das französische Zivil-, Handels- und Strafrecht. Es herrschte Strafgerechtigkeit und es war ein Riesenschritt in die moderne Zeit. Vieles von dem gibt es heute auch noch bei uns. Am Ende waren den Bürgern die Franzosen gar nicht mehr so unlieb.
Die neue Ordnung machte auch vor Bönninghardt nicht halt. Die Franzosen registrierten zunächst alle Bönninghardter Einwohner. Auszugsweise die deutsche Übersetzung:
Danach lebten 1799 auf der Bönnighardt 76 Familien bzw. 177 Personen über 12 Jahre. Die Anzahl der Kinder bis 12 Jahre lässt sich nicht einwandfrei ermitteln. In diesem kleinen Ausschnitt liest man auch von einem Gerhard Engels, der mit einer Verwandten von Laurentz Staut (Schwester?) verheiratet war. Engels hat später die Kolonie Staut übernommen.
Die Franzosen begannen in unserer Region mit zusammenhängenden Vermessungen. Sie sollten die Grundlagen eines Grundstückskatasters werden. Unter dem französischen Ingenieur-Topografen Tranchot erstellten sie zwischen 1803 und 1813 eine exakte topografische Karte 1:20.000. Nach dem Ende ihrer Herrschaft führten die Preußen unter Freiherr von Müffeling diese Karte von 1816 bis 1826 weiter. Diese nachträglichen Eintragungen sind in der Karte in rot dargestellt. In dem unten dargestellten Kartenausschnitt ist die landwirtschaftliche Nutzung des Anwesens Staut gut zu erkennen. Unmittelbasr östlich und westlich des Hofes befinden sich Ackerflächen (weiß dargestellt, mit der Bezeichnung T = Terres labourables = Acker). Nordwestlich und westlich des Hofes, an der Thorenstraße erkennt man die Tannenanpflanzungen, dazwischen die Heideflächen (grün-rosa gefleckt, mit der Bezeichnung Br = Bruyières = Heide).
Das Durcheinander während der französischen Besetzung nutzten viele Ansiedler, um sich eigenmächtig und ohne Genehmigung auf der Bönninghardt niederzulassen. Auch lichtscheues Gesindel nutzte das Chaos, um sich hier zu verstecken. Die Bürgermeister (frz.: maire) der anliegenden Gemeinden ergriffen um 1800 eine Initiative. Sie baten die französche Regierung, die von den Franzosen annektierte Bönninghardt an die anliegenden Gemeinden aufzuteilen. Die Gemeinden hofften, durch eigene intensive Kontrollen dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Es dauerte einige Jahre, bis der entsprechende Vertrag 1808 unterschrieben und durch Napoleon per Dekret vom 28. August 1810 genehmigt wurde. Nach diesem Vertrag kam die Kolonie Staut zur Mairie Veen. Ob sich aber anschließend die Verhältnisse gebessert haben, ist eher unwahrscheinlich. Die französische Besetzung währte nicht lange. Nach dem Zusammenbruch der französischen Herrschaft Ende 1813 kam Bönninghardt zu Preußen.
Die Preußen richteten nun ihre Verwaltung und Rechtsprechung ein. Sie übernahmen viele Dinge der Franzosen, die sich bewährt hatten. Auch die von den Franzosen vorgenommenen Grenzfestlegungen zwischen den Gemeinden wurden übernommen. Das bedeutete, dass die Kolonie Staut bei der Gemeinde Veen verblieb. An der Armseligkeit der Bönninghardter hat das alles nichts geändert. Trotz widriger Lebensumstände hielten sie durch. Sie bewahrten ihre Hoffnung auf eine bessere Existenz.
1822 wurde im Gebiet der Bönninghardt das Grundstückskataster nach französischem Vorbild eingerichtet. Maßstäbliche Flurkarten mit Erfassung aller Grundstücke, deren Nutzungsarten, Bodenbeschaffenheit, Flächen und Grundstückseigentümer waren Voraussetzung für die Ermittlung der Grundsteuer. So lässt sich die Geschichte eines Grundbesitzers nach Unterlagen des Katasteramtes nachvollziehen.
Im alten Flurbuch der Gemarkung Veen, Flur 9, ist der Besitz des Stautenhofes nachgewiesen. Er gehörte 1822 Gerhard Engels. Man darf annehmen, dass es sich um denselben Gerhard Engels handelt, der im Einwohnernachweis der Franzosen 1799 aufgeführt wurde, damals verheiratet mit Laurentz Staut’s Schwester Maria. Über ihr Schicksal ist nichts bekannt. Im erwähnten Flurbuch ist lediglich nachgewiesen, dass südöstlich des Stautenhofes, in einer abgelegenen Hütte mit ca. 14 Morgen Heideland 1822 eine Witwe Staut wohnte. Es kann sich hierbei durchaus um die Witwe des Laurentz Staut handeln. Die Flächengröße des Stautenhofes ist im Urkataster mit 14,5 Hektar angegeben, das entspricht ca. 66 Morgen. In dieser Größenordnung wurden in den Anfängen der Kolonisation die Kolonien vergeben. Man darf annehmen, dass dies noch identisch mit der ursprünglichen Kolonie des Staut gewesen ist. Sie hat sich bis heute in ihrem ursprünglichen Umfang erhalten.
In der Kataster-Urkarte erkennt man den ursprünglichen in rot dargestellten Gebäudebestand, der so heute nicht mehr vorhanden ist. Das mittlere Gebäude, das Wohnhaus, wurde um 1926 abgerissen. Es war baufällig geworden. Lediglich ein paar Ziegelsteine findet man, wenn man im Rasen einen Spaten tief hinein gräbt. Das linke und rechte Gebäude waren nach der Urvermessung verschwunden. Bald danach entstand rechts eine großräumige Scheune. Sie ist heute noch erhalten, sehr gepflegt und dient als Pferdestall. An dem Baustil mit den kleinen Fenstern erkennt man die der Witterung wegen geduckte Bauweise. Das Dach reicht bis wenig über den Boden.
Inzwischen hatte man bei den preußischen Behörden die unselige Armut auf der Bönninghardt erkannt. Kurzfristig gab es Wohltätigkeitsprogramme, die aber bald wegen mangelnder Spenden wieder aufhörten. 1845 wurden von der preußischen Regierung auf der Bönninghardt Brunnen gebaut. Damit war den Bönninghardtern schon ein wenig geholfen. Zwischen 1852 und 1868 wurden die ersten konfessionellen Schulen und Kirchen gebaut. So erhielten die Kinder eine schulische und religiöse Erziehung.
1866 begann ein stetiger Eigentumswechsel des Stautenhofes. Zunächst erwarb ein Wilhelm Hoffmann aus Labbeck das Anwesen. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch ein Fahrweg von Alpen nach Sonsbeck angelegt, Verläufer der heutigen Landstraße. 1869 ging der Besitz an Janhsen, Johan, Ackerer zu Mörmter. 1887/88 erwarben der Bönninghardter Ackerer Theodor Hoffmann und das Dienstmädchen Anna Catharina Kaal den Stautenhof. Anna Catharina Kaal war die Tochter der Eheleute Heinrich Kaal, die den Hof nördlich des Stautenhofes (bei den Bönninghardtern als Spettmanns Hof bekannt) bewirtschafteten. Theodor Hoffmann und Frl. Kaal blieben nur acht Jahre auf dem Stautenhof. 1895/96 ging der Besitz an Theodor van Gemmeren über. Zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, im Jahe 1912, kaufte die Deutsche Solvay AG großflächig Ländereien auf der Bönninghardt, u.a. auch den Stautenhof. Ihr Ziel war es, Reserveflächen für ihre Industrieansiedlungen in Brth und Ossenberg zu haben.
1926 pachtete der Duisburger Kaufmann Max Küppers den Stautenhof mit dem zuvor errichteten Jagdhaus, dem Anfang 1960 noch ein Anbau hinzugefügt wurde. 1972 kauften Max und Anni Küppers den Stautenhof mit den dazu gehörenden Ländereien von der Deutschen Solvay AG wieder zurück. Sie bauten den Stautenhof zu einem gepflegten, wohl situierten Anwesen aus. 1985 übernahm Kurt Küppers zusammen mit seiner Schwester Anneliese den Stautenhof. Sie pflegen das Anwesen weiterhin so, wie es sich heute darstellt.
Dank der Familie Küppers hat der Stautenhof einen enormen Fortschritt gemacht. Nur einige wenige Überreste erinnern noch an die armseligen Verhältnisse vor mehr als 220 Jahren.
Literatur:
Rosshoff, Bernhard: Die Pfäzer Siedlung auf der Bönninghardt,
in: Heimatkalender Kreis Moers 1964, S. 83-87
Bösken, Walter: Die Franzosenzeit in Alpen,
in: Kriegs- und Heimatkalender für Ruhr und Niederrhein 1943
Wiegert, Jürgen: 100 Jahre St. Vinzenz Bönninghardt, 2001
Quellen:
Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland:
Curkölnische Colonisten auf der Bönninghardt, in: Kurköln II, Nr. 2860 und
Einwohnerliste Bönninghardt, in: Roerderpartement Nr. 1718 I, Heft 5, S. 22 ff.
Gemeindearchiv Issum: Akte Baumgärtner A 133, S. 30-35
Katasteramt Wesel: Urkataster Gemarkung Veen, Flur 9
Küppers, Kurt: Erinnerungen